Themen der Ausstellung

„Der oberste Zweck war Vernichtung“

Mehr als 1,3 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 nach Auschwitz deportiert. Darunter waren mindestens 1,1 Millionen Juden. Sie kamen unter anderem aus Ungarn, Polen, Frankreich, aus den Niederlanden, aus Griechenland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Belarus, der Ukraine, Russland, Litauen, Lettland, Italien, Norwegen und Luxemburg.

Die Lebensbedingungen für die Häftlinge waren bereits in der Frühphase des Lagers so angelegt, dass keiner der Verschleppten Auschwitz lebend wieder verlassen konnte. Der polnische Historiker und langjährige Mitarbeiter der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Franciszek Piper, fasst seine jahrzehntelangen Forschungsergebnisse mit den Worten zusammen: „Der oberste Zweck und das primäre Ziel des Konzentrationslagers Auschwitz von seiner Errichtung im Frühjahr 1940 bis zum letzten Tag seines Bestehens im Januar 1945 war Vernichtung. Alle anderen Aufgaben und Ziele, wie etwa die Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge, der Raub der Habe der Opfer, die Nutzung der Leichen oder die Durchführung von medizinischen Experimenten, waren demgegenüber von sekundärer Bedeutung.“

Auschwitz-Birkenau war maßgeblich der zentrale Ort, an dem die Vernichtung der europäischen Juden stattfand. Mindestens 1 Million jüdische Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer ließen Deutsche verhungern, wurden von ihnen mit Giftspritzen direkt ins Herz getötet, durch pseudomedizinische Verbrechen ermordet, wurden erschossen, totgeschlagen oder vergast.

Zwischen 70.000 bis 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene und 10.000 bis 15.000 Entrechtete vieler Sprachen wurden in Auschwitz ermordet.

See in Auschwitz-Birkenau, vollgeschüttet mit der Asche von unzähligen getöteten Neugeborenen, Kindern, Frauen und Männern. © Alwin Meyer

Kinder in Auschwitz

Kinder in Auschwitz: Das ist der dunkelste Fleck im Meer der Leiden, der Verbrechen – des Todes mit seinen tausend Gesichtern: Rassenwahn, Transporte, Trennung von den Eltern und Geschwistern, Ratten, Seuchen, Experimente, Gestank, Hunger, Gas…

Die Kinder wurden mit ihren Familien nach Auschwitz verschleppt oder kamen dort unter unvorstellbaren Bedingungen zur Welt. Nur wenige haben überlebt. Die Häftlingsnummer, am Unterarm, Schenkel oder Po eingraviert, ist manchmal das einzige, was bis heute Auskunft gibt: Auschwitz. Die Babys und kleinen Kinder wurden in Regel sofort ermordet. Hielt eine Mutter während der Selektion ihr kleines Kind im Arm, wurden beide vergast.

Die Kinder von Auschwitz, die befreit werden konnten, erinnern sich an den Hunger, die Selektionen, die an ihnen vollzogenen Experimente, ihre Sehnsucht nach den Eltern, einem guten Essen, einem warmen Federbett, nach Geborgenheit. Sie waren im Lager hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Sie wollten Mutter und Vater, Schwester und Bruder wiedersehen. Sie wollten endlich wieder Kind sein können.

Nach der Befreiung wurde im ehemaligen Lager unter anderem der leere Koffer von Peter Perls aus Hamburg gefunden. Im Oktober 1944 war er nach Auschwitz deportiert und im Alter von 13 Jahren ermordet worden. © Alwin Meyer

232.000 Kinder und Jugendliche

Ruth und Robert Büchler wurden im Alter von elf und fünfzehn Jahren nach Auschwitz deportiert. Ruth überlebte nicht. © Archiv Alwin Meyer

Mindestens 232.000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche im Alter bis einschließlich 17 Jahren wurden nach Auschwitz verschleppt. Allein 216.300 waren Juden und 11.000 Roma und Sinti. 3.120 waren nichtjüdische Polen, 1.140 waren Belarussen, Russen, Ukrainer sowie Kinder und Jugendliche anderer Nationen.

Mitte Dezember 1943: Die Familie Fantl zog, so wie andere jüdische Familien, viele Kleidungsstücke doppelt an. Als Gepäck durften sie jeweils zwanzig Kilogramm mitnehmen. In der Ecke des Viehwaggons stand ein Eimer, in den sie ihre Notdurft verrichten mussten. Dagmar und Rita Fantlová waren vierzehn und elf Jahre alt. Als der Zwangstransport in Auschwitz eintraf, schaute jemand hinaus und sagte: „Wir sind in Auschwitz.“ Diesen Namen hatte Dagmar schon einmal irgendwo gehört, wusste aber nicht, was sich dahinter verbarg. „Ein schreckliches Gefühl“ kroch in den Mädchen hoch.

21. April 1944: Mit einem Transport aus Hamburg trifft die achtjährige Else Schmidt in Auschwitz-Birkenau ein. Ihr Hamburger Pflegevater Emil Matulat hatte ein Jahr zuvor die Deportation des Mädchens noch erfolgreich verhindern können. Jetzt ist Else ganz allein. Die Türen des Viehwaggons werden in Auschwitz aufgerissen. Der Viehwaggon ist sehr hoch. Runterzuspringen traut sich Else nicht. „Ich hatte Angst, mein Koffer würde, wenn ich ihn herunterwarf, hart auf den Boden aufkommen, dabei aufplatzen: Und meine säuberlich darin von meiner Pflegemutter liebevoll eingepackte beste Kleidung würde auf den dreckigen Boden fliegen.“ Das Mädchen „war voller Angst“. Was erwartete sie hier? Schließlich sprach eine Sintizza sie an und sagte zu ihr: „Lass den Koffer stehen.“ All die schönen Sachen blieben da, auch die so sehr von ihr gemochten weißen Skistiefel. Später sah sie, wie ein anderes Mädchen diese trug. Was nach der Ankunft folgte, waren Desinfektion und Tätowierung. „Zum ersten Mal sah ich nackte Erwachsene, schämte mich sehr.“

Am 27. Januar 1945 in Auschwitz befreit werden konnten lediglich 750 Kinder und Jugendliche im Alter von unter 18 Jahren. 521 waren 14 Jahre und jünger. Darunter waren auch 60 in Auschwitz geborene Babys, die gemeinsam mit ihren Müttern zunächst oft für mehrere Monate in Notlazaretten und in provisorischen Krankenhäusern ärztlich intensiv betreut werden mussten. Trotz aller Bemühungen starben mehrere noch kurze Zeit später an den Folgen von Auschwitz.

Mütter mit kleinen Kindern

Gesehen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: Aus Stein gestalteter und bemalter Kinderschuh im Gedächtnis an die dort ermordeten Kinder, hinterlassen von einer Besucherin oder einem Besucher. © Alwin Meyer

Kleine Kinder wurden in Auschwitz fast immer sofort getötet. Hielt eine Mutter während der Eingangs-Selektion ihr Kind im Arm, wurden beide vergast. Die Mutter mochte noch so jung, gesund und „arbeitsfähig“ sein. Das spielte keine Rolle. Trug jedoch zufällig die Großmutter anstatt der Mutter das Kind, wurde sie mit dem Kind ermordet, die Mutter – falls sie für vorläufig „arbeitsfähig“ befunden wurde – in das Lager „eingeliefert.“

Wie sie wollten, verfügten der deutsche Nazi-Staat und seine willfährigen Diener und Dienerinnen über Eigentum, Freiheit und das Leben von Babys, Kindern, Frauen und Männern. Der auch schon damals allgemein geltende Schutz für Kinder, Kranke und alte Menschen wurde hier ins Gegenteil verkehrt: Wer als Arbeitskraft nicht missbraucht werden konnte, hatte keine Daseinsberechtigung. Die Chance für Babys und kleine Kinder, überhaupt ins Lager zu gelangen, tendierte gegen null.

Die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger sah viel im Lager. Sie war am 17. Mai 1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert worden. Sie schreibt in ihrem 1945/46 in Amsterdam verfassten Auschwitz-Bericht: „Nach den Richtlinien der SS brachte jedes jüdische Kind automatisch seiner Mutter den Tod. Das Lager nahm, abgesehen von einzelnen Zufällen, keine Judenkinder an. Sie gingen sofort nach der Ankunft lebend oder gegast ins Feuer und nicht die Kinder allein, sondern mit ihnen die Mutter. Jede Frau, die ein Kind bei sich hatte, auch wenn es nicht ihr eigenes war, sondern ein fremdes, das sie zufällig führte, war dem Tode geweiht.“

Schwangere Frauen und Geburten in Auschwitz

Schwangere Frauen befanden sich in Auschwitz in einer ausweglosen Situation. In der ersten Zeit nach der Errichtung des „Frauenlagers“ (von März bis August 1942 im „Stammlager“, danach „verlegt“ nach Auschwitz-Birkenau) wurden sie „automatisch“ entweder mit Phenolinjektionen direkt ins Herz getötet, erschossen, totgeschlagen oder vergast. Das galt sowohl für schwangere Frauen jüdischer als auch nichtjüdischer Herkunft. Auch wurden schwangere jüdische Frauen aus anderen Konzentrationslagern ausschließlich „zur Vergasung“ nach Auschwitz „überstellt“.

„Bis zum Mai 1943 wurden alle im Lager Auschwitz geborenen Kinder auf grausame Weise ermordet, und zwar in einem Fass ertränkt“, so Stanisława Leszczyńska aus Łódź , von Beruf Geburtshelferin, die fast zwei Jahre im „Frauenlager“ in Auschwitz-Birkenau inhaftiert war und vielen Frauen bei der Geburt geholfen hatte.

Ungefähr ab Mitte des Jahres 1943 wurden Neugeborene nichtjüdischer Abstammung mit Duldung der SS nicht mehr gleich ermordet. Sie bekamen wie die erwachsenen Häftlinge in der Regel eine Nummer tätowiert. Da ihr linker Unterarm noch zu klein war, wurde die Zahl auf dem Schenkel oder dem Po angebracht. Aufgrund der menschenfeindlichen Verhältnisse im Lager überlebte kaum einer dieser Säuglinge.

Jüdische Babys wurden – auch nach der Einstellung der Tötung von nichtjüdischen Neugeborenen – weiterhin gleich nach ihrer Geburt ermordet (bis wahrscheinlich Anfang November 1944). Sie wurden weiterhin ertränkt, mit Giftspritzen getötet, vergast, totgeschlagen oder den Müttern wurden die Brüste abgebunden, damit sie ihr Kind nicht stillen konnten. In der Regel starben die Babys innerhalb kurzer Zeit.

Zeichnung eines unbekannten Häftlings aus Auschwitz-Birkenau, die einige Jahre nach der Befreiung entstanden ist. © Archiv Alwin Meyer

Geboren in Auschwitz

Unbekannt geblieben ist, wie viele schwangere Frauen nach Auschwitz verschleppt wurden. Ebenso lässt sich die Frage, wie viele Kinder dort auf die Welt kamen, nicht beantworten. Dazu sind die vorhandenen Dokumente zu unvollständig. Auch sind bei weitem nicht alle Geburten im Lager schriftlich festgehalten worden. Allerdings wissen wir aufgrund von Zeugenaussagen, dass viele Kinder in Auschwitz geboren wurden: vor allem jüdische Mädchen und Jungen – und zwar trotz des SS-Grundsatzes, jüdische schwangere Frauen in der Regel sofort bei der Ankunft zu töten. Fest steht auch: Mindestens 378 Roma- und Sintikinder wurden im Lager geboren. Außerdem ist eine größere Anzahl von nichtjüdischen belorussischen, polnischen, russischen, ukrainischen und Kindern anderer Nationalitäten in Auschwitz auf die Welt gekommen.

Am 27. Januar 1945 wurden etwa 60 in Auschwitz geborene Mädchen und Jungen befreit. Trotz intensiver ärztlicher Betreuung starben mehrere noch kurze Zeit später. Am Leben blieben unter anderem Angela Orosz-Richt, Barbara Wesołowska, Władysław Osik und Jadwiga Teresa Wakulska.

ANGELA

Angela Orosz-Richt (geborene Bein) wurde um den 21. Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau geboren.
© Angela Orosz-Richt

Am 21. Dezember eines jeden Jahres feiert Angela Orosz-Richt ihren Geburtstag. Im Leben eines jeden Menschen ein freudiges Ereignis. Für Angela Orosz-Richt ist es weit mehr, es ist ein „wirkliches Wunder“, wurde sie doch im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau geboren.

Ihre Mutter Vera Bein wollte nie, dass Angela die schrecklichen Erinnerungen an das Lager teilte. „Sie wollte mich vor den Folgen von Auschwitz schützen.“ Nur nach und nach hat sie ihr einiges erzählt: „Wir wurden am 25. Mai 1944 von Ungarn aus nach Auschwitz transportiert. Wir, das waren meine Mutter, ich in ihrem Bauch und mein Vater, Dr. Tibor (Avraham) Bein, der Rechtsanwalt war.

Trotz des permanenten lebensbedrohlichen Alltags in Auschwitz blieben wir am Leben und ich wurde im Dezember 1944 geboren.“ Angela Orosz-Richt ist überzeugt: „Ich konnte nicht schreien, ich war zu schwach, nur deshalb lebe ich noch.“

„Erst im November konnten meine Mutter und ich nach Ungarn zurückkehren. Obwohl fast ein Jahr seit meiner Geburt in Auschwitz-Birkenau vergangen war, wog ich nur drei Kilogramm. Ich war sehr krank, bewegte mich kaum, die von meiner Mutter konsultierten Ärzte fürchteten, dass ich kein gesundes Kind werden könnte. Aber meine Mutter gab nicht auf. Sie fand schließlich einen Arzt, der mehrere Jahre für mich sorgte, bis meine Knochen so stark waren, dass ich endlich darauf laufen konnte.“ Angela Orosz-Richt hatte bis 1973 ihres Lebensmittelpunkt in Ungarn und ging dann nach Kanada, lebt heute in Montreal. Sie sagt: „Der Schrecken von Auschwitz wird mich den Rest meines Lebens begleiten.“

BARBARA

„Basia“, Kosename für Barbara, diesen Namen hatten dem Mädchen die anderen, gemeinsam mit ihr befreiten Kinder im Lager gegeben.
© Archiv Alwin Meyer

Katja Kulik hieß Barbara Wesołowska wahrscheinlich bei ihrer Geburt und wurde am 27. April 1944 in Auschwitz-Birkenau geboren. Die Nummer von Auschwitz wurde dem Mädchen auf dem Oberschenkel tätowiert. Ihre Mutter ist wahrscheinlich Fjedora Ustinowna Kulik. Ihre Eltern lebten in einem kleinen Dorf in der Nähe von Witebsk (Belarus). Ihr Vater, Nikolaj Iwanowitsch Kulik, half den Partisanen. „Und als die Deutschen kamen, haben sie ihn im August 1943 erschossen.“

Mutter Fejdora wurde am 9. September verhaftet und in Auschwitz eingesperrt. „Meine Mutter war schwanger.“ Sie bekam im Lager Zwillinge: Katja und einen Jungen namens Viktor. Nur das Mädchen blieb am Leben und wurde in das Lager Lebrechtsdorf bei Bydgoszcz „überstellt“. Hier befand sich unter anderem eine „Umwandererzentralstelle“ für Kinder, die auf ihre „Germanisierungsfähigkeit“ überprüft werden sollten.

Die noch nicht einjährige Katja wurde am 21. Januar 1945 im Lager Lebrechtsdorf befreit. Zur Genesung kam sie in ein Krankenhaus in Będzin bei Katowice (Polen). „Und von dort hat mich Władysława Wesołowska mit zu sich nach Hause genommen. Sie hat mich adoptiert. Sie wurde meine ‚Mama’.“

JADWIGA

Jadwiga mit ihren Adoptiveltern Leokadia und Andrzej Worobiej.
© Jadwiga Teresa Wakulska

Lange Zeit war Jadwiga überzeugt: Leokadia und Andrzej Worobiej „sind meine leiblichen Eltern. Erst elf Jahre später erfuhr ich nach und nach die volle Wahrheit. Ich war adoptiert worden.“ Leokadia Worobiej erzählte ihr: „Du wurdest am 15. September 1944 in Auschwitz-Birkenau geboren. Der Name deiner Mutter ist Karolina Pająk.“ Ihre leibliche Mutter hatte ihr den Vornamen Teresa gegeben.

Immer dringlicher wurde für Jadwiga im Laufe der Jahre die Frage nach ihrer Herkunft. Schließlich titelte die örtliche Zeitung „Kurier Lubelski“ am 23. September 1974: „Wo sind die Eltern von Teresa Pająk? – Wer bin ich wirklich Mutti?“ Ein Journalist war auf ihre Geschichte aufmerksam geworden, hatte einen längeren Artikel mit einigen Details veröffentlicht. Schon nach etwas mehr als zehn Tagen kam die so lang ersehnte Nachricht für Jadwiga Wakulska, wie sie inzwischen nach Heirat hieß: Ihre Mutter lebte.

Von ihrer leiblichen Mutter erfuhr sie mehr über die bisher im Dunkeln versteckten Wege der ersten Monate ihres Lebens und die ihrer Familie: „Meine Mutter und mein Vater Józef Pająk wurden bei den ‚Aussiedlungsaktionen’ im Raum Zamość von den deutschen Besatzern vertrieben und zunächst in das Konzentrationslager Majdanek deportiert. Mein Vater ist bei der ‚Überstellung’ in das Lager Buchenwald verstorben.“

Mutter und Tochter wurden am 27. Januar 1945 in Auschwitz befreit. Zurück im Gebiet um Zamość machte sich Karolina Pająk sofort auf die Suche nach ihren drei älteren Kindern. Diese hatte sie nach ihrer Verhaftung bei der Großmutter zurücklassen müssen. „Mich gab sie zur Obhut in ein Waisenhaus.“ Erst nach ungefähr zwei Jahren kam ihre leibliche Mutter zurück. „Da war ich schon adoptiert worden.“ Und die Angestellten des Waisenhauses durften der leiblichen Mutter nicht sagen, wer sie adoptiert hatte. „Es gab solche Vorschriften.“ So hatte ihre Mutter seinerzeit nichts über ihren Verbleib erfahren. Erst rund 30 Jahre später sollten sich Mutter und Tochter wiedersehen.

WLADYSLAW

Władysław Osik im Alter von 14 Jahren – geboren am 17. Juli 1943 in Auschwitz-Birkenau.
© Władysław Osik

1. September 1939: Gegen 4.40 Uhr morgens überfallen deutsche Truppen Polen. Familie Osik lebt in Rembertów bei Warschau. Katarzyna heißt die Mutter, Aleksander der Vater. Sie sind Eltern von vier Kindern: Edvard, 11 Jahre, Janina ist neun, Irena sechs und Tadeusz zwei. „Ich war noch nicht geboren.“ Vater Władysław wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. „Er konnte fliehen und kehrte zurück. Meine Eltern hatten sehr große Angst, dass Vater wieder verhaftet wird.“

Die Familie fuhr mit dem Zug in das gut 250 Kilometer entfernte Skierbieszów bei Zamość (Distrikt Lublin). Sie glaubten hier sicher zu sein. Jedoch wurden Katarzyna und Aleksander Osik festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Im Dezember 1942 kamen sie dort an. „Frauen und Männer wurden sofort getrennt. Wie wir erst 1991 erfahren haben, ist mein Vater am 20. Februar 1943 offenbar an einem ‚Herzinfarkt’ im Lager gestorben.“ – „Ich kam am 17. Juli 1943 im ‚Frauenlager’ auf die Welt.“

Władysław war oft krank. Sohn und Mutter blieben jedoch am Leben. „Andere inhaftierte Frauen haben uns geholfen. Wir wurden Ende Januar 1945 befreit.“ Danach hat der Junge harte Zeiten durchmachen müssen: „Zum Beispiel hatte ich eine sehr schwere Lungenentzündung, wäre fast gestorben.“ Immer wieder war der Junge krank.

Als Władysław die Grundschule beendet hatte, musste er sofort einer Beschäftigung nachgehen, irgendwo helfen, wo Hilfe gefragt war. Zunächst arbeitete er in einem Büro, hat Briefe weggebracht und alles Mögliche zu Fuß holen müssen. Eine Ausbildung konnte sich die Familie nicht leisten. Später hat Władysław Osik viele Jahrzehnte als Schlosser und Schweißer gearbeitet.

„Auschwitz lässt dich nie mehr los“

Die Menschen, die sich um die befreiten Kinder kümmerten, befürchteten, dass sie nicht überleben würden. Sie sahen oft wie Skelette aus, hatten Biss-wunden von Hunden, ihre Körper waren von Geschwüren bedeckt, ihre Augen von Eiter völlig verklebt, lange Zeit lief das Essen wie durch ein Sieb durch sie hindurch, sie hatten Lungen- und Hirnhautentzündungen, Tuberkulose und andere Krankheiten.

Manche wussten nichts über ihre Herkunft. Fast alle waren Waisen. Vor allem die kleinen Kinder waren stark vom Lager geprägt. Sie sprachen ein Gemisch aus mehreren Sprachen. Essensreste und kleine Gebrauchsgegenstände wurden lange Zeit von ihnen versteckt, denn im Lager hatte jedes noch so kleine Stückchen Brot einen unmessbaren Wert gehabt. Sie verteidigten es, als ginge es um ihr Leben.

Auschwitz blieb in ihnen. Zimmernummern an einem Schild im Hotel, Schneematsch, Dunkelheit, die Reaktion der Mitmenschen, Gerüche, Gegenstände, Gesichter – alles kann, vieles erinnert an Auschwitz. In solchen Augenblicken, Minuten, Stunden oder Tagen ist vor ihnen erneut der im Lager allgegenwärtige, jeden Augenblick drohende Tod. Einer sagt stellvertretend für alle anderen: „Egal, wie weit du wegläufst. Auschwitz lässt Dich und Deine Familie nie mehr los.“

Mehr als zwei Millionen Menschen aus aller Welt besuchen in jedem Jahr die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Manche haben an den Gleisen im ehemaligen Vernichtungslager Tafeln mit Inschriften hinterlassen. Darauf stehen die Namen von Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden, oder „Erinnere dich“ und „Niemals vergessen“. © Archiv Alwin Meyer

Danksagung

Zur Realisierung haben mit ihrer unverzichtbaren Hilfe und ihren Informationen beigetragen:

Jochen August / Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau / Yehuda Bacon / Jörg Bischoff / Adam Brandhuber / Robert Büchler / Bogdan Chrześciański / Anna Fefferling / Daniel Frisch / Krzysia Gacka / Christoph Heubner / Chaim Schlomo Hoffmann / Anne Huhn / Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem Jerusalem / Nadja Jereschinski / Beata Kamińska / Kola Klimczyk / Heinz Salvator Kounio / Szymon Kowalski / Zoltán Kozma / Vera Kriegel / Helena Kubica / Christoph Kulessa / Stanisława Leszczyńska / Richard Levinsohn / Dasha Lewin / Dagmar Lieblová / Channa Loewenstein / Jan Ludwig / Jack und Mark Mandelbaum / Musée de l‘Holocauste Montréal / Maciej Niewiadomski / Angela Orosz-Richt / Władysław Osik / Wojciech Płosa / Anna Polschtschikow / Ulrike Rommel / Nora Sbornik / Aryeh Simon / Adolph Smajovich-Goldenberg / Olga Solomon / Gerhard Steidl / Jiří Steiner / Irena und Tadeusz Szymański / Eva Umlauf / Jadwiga Teresa Wakulska / Zofia Wareluk / Barbara Wesołowska.

© und Autor 2022 Alwin Meyer

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